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Mike (5 J.) und Dennis (2 J.) und ihre Eltern

Mike (5 J.) und Dennis (2 J.) und ihre Eltern:

Herr und Frau Müller sind verheiratet und eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Leben. Der Vater geht arbeiten und die Mutter ist wegen Mike und Dennis Zuhause. Sie finden beide, dass es ganz gut läuft bei ihnen – allerdings haben sie immer wieder mit dem Jugendamt zu tun. Das Jugendamt schätzt ein, dass das Wohl der Kinder nicht ausreichend gesichert wäre…

Das Jugendamt beschreibt die Situation so: Überforderte Eltern, mangelnde Wohnungshygiene, fehlende Förderung der Kinder, Verdacht auf Vernachlässigung beider Kinder.

Seit 2 Jahren unterstützt eine ambulante Erziehungshilfe die Familie. Doch es verändert sich, für das Jugendamt, nur wenig in der Familie – ist die laufende Hilfe da überhaupt noch sinnvoll? Der Unterstützungsbedarf ist noch da, aber scheinbar braucht diese Familie irgendwas anderes? Aber was? Das Jugendamt hat mal gehört, dass es Großeltern im Hintergrund gibt, die viel helfen - aber es ergab sich bisher kein Kontakt mit ihnen.

Da fällt der Mitarbeiterin im Jugendamt das Familienrats-Verfahren ein!

Sie informiert die Eltern darüber, dass die Durchführung eines Familienrates ein nächster Schritt in der Hilfeplanung sein könnte. Die Eltern haben erstmal nichts dagegen und entscheiden sich, einen Familenrat auszuprobieren.

Also gibt sie einer Familienrats-Koordinatorin den Auftrag, die Eltern entsprechend zu kontaktieren. Als Auftrag an den Familienrat formuliert sie:

Finden Sie in Ihrem Familienrat gemeinsam mit den wichtigen Menschen aus ihrem privaten Umfeld heraus, ob die Eltern weiterhin eine Hilfe durch das Jugendamt haben wollen – oder auch nicht. Wenn ja: Welche Art der Hilfe genau möchten sie haben und wie wollen sie mitwirken? Was genau brauchen die Eltern, damit es in Zukunft besser läuft als bisher, und was genau brauchen die Kinder dafür?

Der Familienrat fand wenige Wochen später statt, und zwar im Wohnzimmer der Großeltern mütterlicherseits.

So sitzen da Oma, Opa, Bruder und Schwester der Mutter, die Großeltern väterlicherseits mit ihrem anderen Sohn, und eine Freundin der Mutter. Mike und Dennis sind anfangs auch dabei, aber als es für die Jungs zu langweilig wird, geht ein Onkel mit ihnen hoch in ein Zimmer zum Spielen.

In der ersten Runde des Familienrates, in der die Koordinatorin moderiert und alle erst einmal zu Wort kommen lässt,  äußern Herr und Frau Müller gleich zu Beginn, dass sie heute alles dafür tun werden, um endlich aus dem Blickfeld des Jugendamtes zu kommen. Was sie denn genau dafür tun müssten?

Das anwesende Jugendamt gibt ihnen darauf detailliert Antwort – und alle Teillnehmer*innen hören das mit und wissen nun alle Dasselbe.

Die Koordinatorin hatte die Eltern im Vorgespräch ausdrücklich ermuntert, solche Fragen offen zu stellen – denn gerade auch dafür sei ein Familienrat da.

Offenbar verlief die private Familienzeit gut, denn als das Jugendamt und die Koordinatorin nach 1,5 Stunden wieder dazugerufen wurden, sitzt  die Familie gutgelaunt bei Kaffee und Kuchen zusammen.

Zudem hat der Familienrat klare Beschlüsse gefasst, die die eine Oma nun vortrug:

  • Die laufende ambulante Familienhilfe wollen die Eltern nicht mehr. Damit die Kinder und deren Bedarfe aber im Blick bleiben, übernehmen beide Großelternpaare einiges davon, was im Detail aufgeschrieben wurde. Das wollten sie bisher auch schon viel öfter tun, wagten sich aber nicht, den Eltern das anzubieten. Jetzt, durch den Familienrat, haben sie aber die „Erlaubnis“ der Eltern bekommen, helfen zu dürfen.
  • Alle Verwandten sagen zu, in puncto Wohnungszustand und auch Förderung der Kinder nun mit anzupacken. Unter anderem wurde auch festgelegt, wer jeweils dem Vater und der Mutter „einen Tritt geben darf“, wenn deren „Bequemlichkeit“ wieder überhand nimmt.
  • Auch wurde festgelegt, wer sich um einen Logopädieplatz kümmert und mit wem die Eltern ab jetzt die Erziehungsfragen besprechen.
  • Zuguterletzt wurde das Jugendamt gebeten, weiterhin gelegentlich mit der Familie in Kontakt zu bleiben, damit man „im Notfall“ noch eine Ansprechperson habe.

Was hat dieser Familienrat bewirkt?

Zum einen wurde eine ambulante Maßnahme beendet, die von den Eltern nicht wirklich angenommen wurde und daher keine Chance hatte, überhaupt etwas zu bewirken.

Zum anderen wirkt sich der Familienrat deutlich auf das ganze Familiensystem aus: Alle bringen sich nun bzgl. Eltern und Kinder mehr ein – weil sie es nun „dürfen“. Deren Ressourcen werden in Zukunft also genutzt. Das Engagement des gesamten Umfelds erhöht sich, und nun haben viel mehr Menschen die beiden Kinder im Blick als bisher – also mehr Kinderschutz als vorher. Dadurch, dass alle nun das Jugendamt kennengelernt haben, werden sie sich bei Bedarf eher an dieses wenden.

Insgesamt fühlt sich die Familie durch ihren Familienrat jetzt ernstgenommen, kann stolz auf ihren Plan sein und wird sich künftig wohl mehr zutrauen – Empowerment pur.

Was sagt das Jugendamt dazu?

„Seit dem Familienrat ist kaum noch Kontakt zu Familie Müller nötig. Das freut mich sehr, und das erspart mir viel Druck und Arbeit. Ich war erst nicht sicher, ob es ohne Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) läuft, aber es zeigte sich schnell, dass die jetzige Hilfe durch die Verwandten funktioniert und ausreicht. Es läuft!“

Update, drei Jahre nach dem Familienrat:

Es läuft weiterhin gut. Weder Kindergarten noch Schule melden Vernachlässigung o.ä. Kontakt des Jugendamtes besteht trotzdem, aber nur locker.

Bemerkenswert:

Im vierten Jahr nach dem Familienrat gab es eine Polizeimitteilung wegen Nachbarstreitigkeiten, in der der Zustand der Wohnung kritisiert wurde. Daraufhin lebten Mike und Dennis vorübergehend mit schriftlicher Vereinbarung mit den Eltern bei ihren Großeltern, bis die Wohnung wieder in Ordnung war. Das klappte gut.

Das Jugendamt gab in diesem Zusammenhang der Koordinatorin erneut den Auftrag, für einen zweiten Familienrat. Die Koordinatorin ermunterte die Mitarbeiterin daraufhin, die Familie zuerst einmal an das Ergebnis bzw. Protokoll des ersten Familienrates zu „erinnern“. Und bevor die Planung dann überhaupt losging, waren die Eltern, die Großeltern und alle Verwandten wieder „wachgeworden“, und ein zweiter Familienrat war nicht mehr nötig.

(Story von Myriam Rauch, Jugendamt des Main-Taunus-Kreises)